Asyl- und Einwanderungspolitik in der Europäischen Union
On 28. September 2018 by organickoala176Diese bedeutsame Übertragung einzelstaatlicher Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft hat vermutlich nur deswegen keine ausgreifende öffentliche Debatte entfacht, weil die erforderlichen gesetzgeberischen Entscheidungen des Rates wenigstens für einen Übergangszeitraum von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages einstimmig erfolgen müssen. Der Verlust der gesetzgeberischen Zuständigkeit für innenpolitisch so umstrittene Felder wie Asyl und Einwanderung wurde von dem Bewußtsein überlagert, daß eine Regelung auf europäischer Ebene gegen den Willen eines Mitgliedstaates mindestens vorläufig nicht zustande kommen kann. Auch nach Ablauf des Fünfjahreszeitraums sieht der Amsterdamer Vertrag vor, daß der Übergang zur Mehrheitsentscheidung im Rat – verbunden mit der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments – nur einstimmig herbeigeführt werden kann. Theoretisch schreibt diese Regelung die Fortdauer des Vetorechts auf unabsehbare Zeit fest, vorausgesetzt ein Mitgliedstaat versteift sich darauf, von der Vetomöglichkeit Gebrauch zu machen.
Ungeachtet dessen hat die Union auf ihrem Gipfel in Tampere im Oktober 1999 in einem ehrgeizigen politischen Programm den Aufbau eines europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beschlossen. Dazu gehören auch asyl- und einwanderungspolitische Regelungen auf europäischer Ebene. Es ist daher nur folgerichtig, daß die Kommission eine Reihe gesetzgeberischer Schritte bereits getan hat.
Der Katalog der Kommissionsaktivitäten umfaßt neben grundsätzlich wichtigen Mitteilungen über Migrations- und Asylpolitik auch die folgenden bedeutsamen Gesetzesentwürfe:
- Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (KOM(2000)624 endgültig; 2000-10-10; 18 Seiten)
- Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (KOM(2000)303 endgültig; 2000-05-24; 49 Seiten)
- Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (KOM(2000)578 endgültig; 2000-09-20; 43 Seiten)
Inzwischen hat auch in Deutschland eine Diskussion über neue Regeln zur Einwanderung begonnen, nicht zuletzt initiiert durch den aktuellen Arbeitskräftebedarf in bestimmten Branchen. Es zeigt sich bereits jetzt, daß die von der Union seit eh und je geforderte Differenzierung zwischen Zuwanderung im Allgemeinen und Einwanderung im Besonderen Sinn macht. Zuwanderung hat es auch in Deutschland immer gegeben. Sie vollzog sich über Asyl, Familiennachzug, Bürgerkriegsflucht und im beträchtlichen Umfang illegal. Einwanderung im klassischen Sinne zur Besiedlung menschenarmer Regionen findet man heute allenfalls in Neuseeland, Australien, Kanada und eingeschränkt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese klassische Einwanderung gibt es in Europa insgesamt sowenig wie in Deutschland, was auch für die Zukunft gelten dürfte. Im übrigen zeichnet sich die Europäische Union durch unterschiedliche Einwanderungstraditionen aus. Sie verknüpfen sich in einigen Ländern mit ehemaligen Kolonien; Österreich verfügt seit geraumer Zeit über eine knapp bemessene, jährlich festgelegte Einwanderungsquote für bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes; darüber hinaus gibt es in den EU-Mitgliedstaaten eine förmliche Einwanderungsregelung überhaupt nicht. Welche einwanderungspolitischen Konsequenzen aus dem Arbeitskräftebedarf in der deutschen Datenverarbeitung zu ziehen sind ist ebenso offen wie die Frage, ob der demografischen Entwicklung und den damit verbundenen Konsequenzen für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme durch Einwanderung entgegengewirkt werden kann und welche Maßstäbe an einen solchen Vorgang anzulegen sind.
Es gibt also viel Anlaß, aufzuzeigen, wofür in Sachen Asyl und Einwanderung zukünftig Europa und wofür die Mitgliedstaaten zuständig sein werden. Es gilt für Deutschland vor allem, neu zu justieren, welche asyl- und einwanderungspolitischen Grundsätze für uns unaufgebbar wichtig sind und in welchen Feldern eine gemeinschaftliche Lösung per se den Vorzug vor den vielfältigen einzelstaatlichen Regelungen bietet.
Europäisches Asyl- und Zuwanderungsrecht wird dem Grundsatz der Mindestnormierung folgen. Damit wird ein bestimmtes Rechtsniveau festgeschrieben, das für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist. Kein Mitgliedstaat wird jedoch daran gehindert sein, über die europäischen Normen hinauszugehen. Ein „harmonisiertes“, in allen Einzelheiten voll durchnormiertes Asyl- und Zuwanderungsrecht wird es also in der Europäischen Gemeinschaft nicht geben. Dies hat zu Folge, daß die Europäer den Deutschen die Verantwortung für ihr außerordentlich großzügig ausgestattetes Asylrecht nicht abnehmen werden. Niemand in Europa wird die Deutschen daran hindern, in dieser „Isolierung auf hohem Niveau“ zu verharren. Das gilt insbesondere für das deutsche Asylgrundrecht, das jedem Asylbewerber ein subjektiv einklagbares Recht auf Asyl bei Gericht einräumt. Diese Verfahrensgestaltung ist in Europa einmalig; auf diesem Wege wird kein anderer Mitgliedstaat den Deutschen folgen, was mit einiger Gewißheit die Attraktivität des Asylstandorts Deutschland auch in Zukunft weiter steigern wird, vorausgesetzt, die Deutschen bleiben bei ihrer Grundrechtslösung. Es werden also die Deutschen selbst zu entscheiden haben, ob sie auf dem Grundrecht beharren oder das subjektiv einklagbare Recht auf Asyl in eine institutionelle Garantie umwandeln. Nur diese institutionelle Garantie bietet die Möglichkeit, über Asylanträge innerhalb angemessener Frist rechtskräftig zu entscheiden, ohne daß damit das materielle Recht auf Asyl eingeschränkt wird.
Mehr als in der Vergangenheit werden wir in Deutschland asyl- und einwanderungspolitische Regelungen in anderen europäischen Ländern in Betracht zu ziehen haben. Deswegen freuen wir uns besonders, für diese Ausgabe unserer Reihe auch Autoren aus den Nachrichten Schweiz gewonnen zu haben.
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